In Deutschland wird etwa jedes 10. Baby zu früh geboren. Die Überlebensrate dieser kleinen Frühgeborenen ist in den letzten 4 Jahrzehnten aufgrund enormer Fortschritte der neonatalen Intensivmedizin deutlich angestiegen. Um nicht nur das reine Überleben, sondern auch einen guten gesundheitlichen Zustand für diese Kinder zu erreichen, kommt dem Faktor Ernährung eine entscheidende Rolle zu. Muttermilch stellt dabei aufgrund ihrer einzigartigen Nährstoffzusammensetzung die optimale Ernährung für Frühgeborene dar. Sie enthält zudem eine Vielzahl immunologischer Substanzen, die beim Aufbau einer gesunden Darmflora helfen und so das Immunsystem stärken. Auf diese Weise schützt sie das Kind vor einer Reihe von Krankheiten und medizinischen Komplikationen wie beispielsweise der nekrotisierenden Enterokolitis (NEC), Late-onset Sepsis (LOS) oder bronchopulmonalen Dysplasie (BPD).[1; 2; 3; 4; 5; 6] Darüber hinaus verbessert Muttermilchernährung die langfristige neurokognitive Entwicklung[7; 8] sowie die kardiovaskuläre Gesundheit[9].

Die Milch der eigenen Mutter stellt die erste Wahl dar. Steht diese nicht zur Verfügung, ist gespendete Frauenmilch einer etablierten Milchbank die nächstbeste Option vor industriell hergestellter Frühgeborenennahrung.

Frauenmilchbanken

Die erste Frauenmilchbank in Deutschland wurde bereits 1919 von der Kinderärztin Marie-Elise Kayser in Magdeburg eröffnet und feierte somit in diesem Jahr ihr 100-jähriges Jubiläum. Bis zum Jahr 1959 gab es bereits 86 Milchbanken in Deutschland, davon den Großteil in den neuen Bundesländern. Nach zwischenzeitlicher Abkehr – 1989 wurde die letzte Frauenmilchbank in Westdeutschland geschlossen und künstliche Säuglingsnahrung als bessere Alternative angesehen – wird der Aufbau von Frauenmilchbanken seit einigen Jahren wieder unterstützt.

Aktuell gibt es 34 Frauenmilchbanken in Deutschland, weitere sind geplant. Dem gegenüber stehen 200 Perinatalzentren und das bedeutet, dass die ESPGHAN-Empfehlung von 2010, Frühgeborenen als 1. Wahl Frauenmilch zu füttern, seit mehr als 10 Jahren nicht umgesetzt werden kann. Weltweit gibt es aktuell > 750, in Europa 280 Frauenmilchbanken[10]. In Schweden und Norwegen kann jedes Frühgeborene < 34. Schwangerschaftswoche mit Frauenmilch versorgt werden.

Die im Jahr 2018 gegründete Frauenmilchbank-Initiative (FMBI) setzt sich für den Aufbau neuer und die Unterstützung bestehender Frauenmilchbanken in Deutschland ein. Als Ziel für das Jahr 2023 hat sie sich gesetzt, dass kein Bundesland mehr ohne Frauenmilchbank ist und in Zukunft alle bedürftigen Frühgeborenen in Deutschland Zugang zu Milch aus einer Frauenmilchbank haben.[11]

Frauenmilch muss angereichert werden

Ungeachtet der vielen Vorteile, die Mutter- bzw. Frauenmilch insbesondere für Frühgeborene hat, liefert sie jedoch nicht ausreichend Energie und Nährstoffe, um den bis zu dreifach höheren Bedarf Frühgeborener im Vergleich zu Reifgeborenen zu decken. Daher muss diese mit entsprechenden Frauenmilchsupplementen, die sowohl Makro- als auch Mikronährstoffe enthalten angereichert werden. Alle Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht < 1.800 g sollten mit angereicherter Frauenmilch ernährt werden.[12] Für extrem kleine Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht < 1.000 g können zudem zusätzliche Proteinsupplemente notwendig sein, um die von der ESPGHAN empfohlene Eiweißzufuhr von bis zu 4,1 g pro 100 kcal zu erreichen.[13]

Aktuell angewandte Fortifizierungspraktiken

Zur Anreicherung von Frauenmilch für Frühgeborene in der Klinik, gibt es verschiedene Fortifizierungsmethoden, die aktuell Anwendung finden. Dabei wird zunächst zwischen der Standard-Fortifizierung und der Individuellen-Fortifizierung unterschieden. Bei der Individuellen-Fortifizierung gibt es die Möglichkeit der adjustierten Fortifizierung und der gezielten Fortifizierung.

Die Standard-Fortifizierung ist die am häufigsten angewendete Methode. Hierbei wird eine bestimmte, festgesetzte Menge Multi-Nährstoff-Supplement zu 100 ml Frauenmilch dazugegeben, um die empfohlene Nährstoffzufuhr zu erreichen. Diese festgesetzte Menge, wird vom Hersteller entsprechend kalkuliert und setzt einen festen Proteingehalt für alle Muttermilchproben voraus, ohne intra- und interindividuelle sowie zeitliche Variationen zu berücksichtigen. Der Vorteil dieser Fortifizierungsmethode ist, dass sie sehr einfach und praktisch in der Anwendung ist, jedoch in vielen Fällen nur zu einem suboptimalen Wachstum führt, da weder die Variabilität der Hauptnährstoffe der Muttermilch, noch die unterschiedlichen Bedarfe der Kinder berücksichtigt werden.

Bei der adjustierten Fortifizierung handelt es sich um eine idividuelle Fortifizierungsmethode, bei der die Proteinzufuhr auf Basis der Stoffwechselreaktion des Frühgeborenen angepasst wird. Dabei wird mit einer anfänglichen Standard-Fortifizierung begonnen und im weiteren Verlauf auf Basis des Blut-Harnstoff-Stickstoffs (BUN) die adäquate Proteinzufuhr angepasst. Liegt der BUN < 10 mg/ dl wird zur Standard-Fortifizierung zusätzlich Protein supplementiert. Liegt das BUN-Level > 16 mg/ dl wird die Proteinmenge reduziert. Auch diese Fortifizierungsmethode ist praktisch und nicht Labor intensiv. Sie überwacht die genaue Proteinzufuhr jedes Frühgeborenen und bietet auch eine Sicherheit vor einer zu hohen Zufuhr.

Die zweite Möglichkeit einer idividuellen Fortifizierung stellt die gezielte Fortifizierungsmethode dar. Das Prinzip dieser Methode stellt die Analyse der Makronährstoffzusammensetzung der Frauenmilch mittels eines speziellen Frauenmilch-Analyse-Gerätes dar. Auf diese Art und Weise kann auf Basis der Analyseergebnisse genau die Menge an Eiweiß und/ oder Fett supplementiert werden, die das Frühgeborene auf Basis der Empfehlungen braucht. Nach dieser Methode können alle Makronährstoffe supplemeniert werden. Sie ist allerdings recht laborintensiv und erfordert ein entsprechendes Analysegerät. Die Supplementierung erfolgt zudem entsprechend der empfohlenen Zufuhrmengen und berücksichtigt nicht, dass der Bedarf eines jeden Frühgeborenen unterschiedlich sein kann.[14]

Fortifizierung nach Klinikentlassung

Für die Ernährung nach Klinikentlassung gibt es noch immer keinen klaren Konsens, jedoch einige aktuelle Übersichtsarbeiten[15; 16; 17] sowie zwei Positionspapiere von ESPGHAN[18] und ÖGKJ[19].

Für Frühgeborene, die bei Klinikentlassung ein adäquates Wachstum zeigen (> 10. Perzentile), empfiehlt die ESPGHAN die Ernährung mit nicht angereicherter Muttermilch, oder mit einer Säuglingsanfangsnahrung, die LCPs enthält. Frühgeborene, die ein Entlassungsgewicht < 10. Perzentile haben und dementsprechend kein adäquates Wachstum aufweisen, sollen angereicherte Muttermilch oder eine spezielle, nährstoffangereicherter Entlassungsnahrung (Post Discharge Formula, PDF) mindestens bis zum errechneten Geburtstermin, möglicherweise aber auch darüber hinaus bis zum Alter von 52 Wochen bekommen[18].

Die ÖGKJ empfiehlt für alle Frühgeborenen bei Klinikentlassung angereicherte Muttermilch bzw. eine Entlassungsnahrung, für Frühgeborene mit einem Entlassungsgewicht > 10. Perzentile bis zum errechneten Geburtstermin, für Frühgeborene < 10. Perzentile oder mit Perzentilenverlusten von 2 Perzentilen bis zum Alter von 52 Wochen. Dabei wird eine Anreicherung von 50% der Mahlzeiten als akzeptabel erachtet. Zudem wird eine Supplementierung mit Eisen und Vitaminen im ersten Lebensjahr (6-12 Monate) empfohlen.

Die Supplementierung der Muttermilch wird häufig um den Zeitpunkt der Entlassung herum abgebrochen und führt zu einer suboptimalen Ernährung und als Folge davon zu Wachstumsverzögerungen[14].

Um das Stillen nicht zu beeinträchtigen und gleichzeitig nicht auf ein Muttermilchsupplement verzichten zu müssen, macht die ÖGKJ in ihrem Positionspapier auf ein von Laktationsberaterinnen empfohlenes, aber nicht evidenzbasiertes Vorgehen aufmerksam. Danach wird das Muttermilchsupplement auf die ungefähre Trinkmenge pro Mahlzeit angepasst, in maximal 5 ml abgekochtem warmem oder angewärmtem sterilem Wasser aufgelöst und vor der Mahlzeit per Fingerfeeder, Fläschchen oder Spritze verfüttert. Anschließend kann das Kind dann von der Mutter ad libitum gestillt werden.

In einer aktuellen Studie konnte gezeigt werden, dass die Verwendung eines Frauenmilchsupplements in Form von Sachets zur Anreicherung von 10 ml Frauenmilch für die Anreicherung zu Hause gut funktionierte. Diese wurden dem Kind per Becherfütterung verabreicht und anschließend das Kind an der Brust gestillt[20].

Um die Notwendigkeit der Anreicherung von Muttermilch auch über die Klinikentlassung hinaus, für zu Hause verständlich zu machen, bedarf es einer konsequenten und verständlichen Aufklärung von Seiten der Klinik gegenüber den Eltern sowie klarer und eindeutiger Empfehlungen, um die praktische Umsetzung zu gewährleisten.

Quellen

  1. Lucas A, et al. Lancet 1990; 336: 1519-23.
  2. Maffei D, Schanler RJ. Semin Perinatol 2017; 41: 36-40.
  3. Miller J, et al. Nutrients 2018; 31: 10 (6).
  4. Spiegler J, et al. J Pediatr 2016; 169: 76-80e4.
  5. Meinzen-Derr J, et al. J Perinatol 2009; 29: 57-62.
  6. Patel A, et al. J Perinatol 2013; 33 (7): 514-9.
  7. Rozé JC, et al. BMJ Open 2012; 2: e000834.doi: 10.1136/bmjopen-212-000834.
  8. Lechner BE, Vohr BR Clin Perinatol 2017; 44: 69-83.
  9. Arslanoglu S, et al. J Pediatr Gastroenterol Nutr 2013; 57: 535-42.
  10. www.europeanmilkbanking.com
  11. www.frauenmilchbank.de
  12. Moro G, et al. 2015. JPGN; 61 (Suppl1): S16-S19.
  13. Agostoni C, et al. JPGN 2010; 50: 85-91.
  14. Arslanoglu S, et al. Frontiers in Pediatrics 2019; 7:1-13.
  15. Teller IC, et al. Clin Nutr. 2016; 35:791–801. doi: 10.1016/j.clnu.2015.08.006.
  16. Young L, et al. Cochr Database Syst Rev. 2016; doi: 10.1002/14651858.CD004696.pub5.
  17. Young L, et al. Cochr Database Syst Rev. 2013; doi: 10.1002/14651858.CD004866.pub4.
  18. Aggett PJ, et al. J Pediatr Gastroenterol Nutr. 2006; 42:596–603.
  19. ÖGKJ Monatsschr Kinderheilkd 2012; 160: 491-8.
  20. Marino LV, et al. Arch Dis Child 2018; 0: 1-6.