Zur Geburt eines Kindes ist das Immunsystem noch nicht aktiv. Der Körper des Neugeborenen muss erst lernen mit Viren, Bakterien und anderen schädlichen Erregern umzugehen. In den ersten drei Lebensjahren baut sich nach und nach die körpereigene Abwehr auf.

Dabei profitiert das Baby bis zu neun Monate nach der Geburt vom Nestschutz. Der bildliche Begriff beschreibt die Unempfindlichkeit des Ungeborenen gegenüber Keimen. Während der Schwangerschaft wurden Antikörper der Mutter über die Plazenta an den Embryo übertragen.[1] Gegen all die Infektionskrankheiten, die die Mutter bereits hatte oder dagegen geimpft wurde, ist auch das Neugeborene immun.[2]

Schlüsselfaktoren für ein gesundes Immunsystem

Der Darm ist die Zentrale des Immunsystems: Er beinhaltet 70% aller Immunzellen[3]. Zudem besiedeln etwa 100 Billionen Bakterien den Darm, die mit den Immunzellen interagieren und zusätzlich die zentrale Rolle unterstreichen. Insbesondere die Ernährung spielt bei der Zusammensetzung der Bakterien in der Darmflora eine wichtige Rolle[4].

Eine gesunde Darmflora zählt daher zu den wichtigsten Faktoren für die Reifung des Immunsystems[5]. Sie steht in Verbindung mit der Gesundheit im weiteren Lebensverlauf, beispielsweise mit einem geringeren Risiko, Allergien zu entwickeln[6]. Denn eine ausgeglichene Darmflora fördert die Etablierung und das „Training“ gesunder Immunreaktionen[7]. In Studien zeigte sich, dass eine verzögerte Entwicklung der Darmflora die Entwicklung der oralen Toleranz beeinträchtigen kann[8].

Das „Toleranz-Prinzip“

Die Fähigkeit des Immunsystems, Abwehrreaktionen gegenüber Fremdeiweißen zu unterdrücken, wird „orale Toleranz“ genannt.[9] Diese lebenswichtige Fähigkeit des Körpers ist Teil der natürlichen Entwicklung des Immunsystems und wird vom Körper von Anfang an erlernt durch Exposition des Säuglings mit Allergenen aus der Umwelt (z.B. aus der Nahrung). Gesunde Säuglinge, die keine Allergie entwickeln, besitzen diese Fähigkeit der oralen Toleranz.[10] Bei reduzierter Exposition kann das Immunsystem nicht lernen, adäquat mit Allergenen umzugehen, was zu einem allgemeinen Anstieg der Nahrungsmittelallergien beitragen kann[11]. Das darmassoziierte Immunsystem (engl. gut-associated intestinal lymphoid tissue – GALT) ein Fremdeiweiß nicht toleriert, sondern versucht es zu bekämpfen[12].

Auf der immunologischen Ebene sind es sogenannte regulatorische T-Zellen (Treg), die zu oraler Toleranz führen. Sie stehen in Konkurrenz zu T-Helfer-2-Zellen (TH2), die eine Sensibilisierung des Immunsystems gegenüber Fremdeiweißen anstoßen, was die Grundlage für eine anschließende Allergieentstehung darstellt.

Beide, sowohl Treg- als auch TH2-Zellen, stammen aus noch „unreifen“ T-Zellen.[13] Ob sich aus ihnen eine schützende Treg-Zelle oder eine allergiefördernde TH2-Zelle entwickelt, entscheiden eine Vielzahl von Faktoren, bei denen auch die Zusammensetzung der Muttermilch eine wichtige Rolle spielt.

Eine Reihe von Studien konnte zeigen, dass die Ausbildung der oralen Toleranz durch eine geeignete Nahrungsauswahl im Säuglingsalter gefördert werden kann, beispielsweise durch die Kombination einer niedrigen Menge an Kuhmilchallergenen mit Prebiotika[14]. Durch die Ernährung können damit optimale Bedingungen geschaffen werden, die eine normale Toleranzentwicklung ermöglichen. D.h. das Immunsystem stuft Allergene aus der Umwelt als harmlos ein. Damit kann eine Allergie – eine überschießende Immunreaktion – verhindert werden.

Muttermilch für ein starkes Immunsystem

Auch über die ersten Monate hinaus können Babys schützenden Antikörper, antibakteriell wirkende Eiweiße, Fettsäuren und unter anderem auch Immunzellen übertragen bekommen – über die Muttermilch.

Sekretorische Immunglobuline A verhindern meist bereits im Magen und im Darm, dass Mikroorganismen überhaupt in Schleimhäute und das Gewebe eindringen können. Sogenannte prebiotische Oligosaccharide tragen zu einer gesunden Darmflora bei. Sie dienen förderlichen Darmbakterien als Nahrung und unterstützen somit deren Vermehrung – krankmachende Keime werden am Wachsen gehindert.

In der Muttermilch finden sich darüber hinaus Lymphozyten, zum Großteil T-Zellen, die spezifisch fremde Stoffe und Krankheitserreger bekämpfen. Muttermilch hilft also dem Organismus des Säuglings in vielfältiger Weise mit Erregern fertig zu werden und kann so dazu beitragen, dass sich ein starkes Immunsystem entwickelt.[15]

Muttermilch fördert zudem die Aufnahme von Vitamin D und begünstigt so die Ausreifung von toleranzfördernden Treg-Zellen, die auf ihrer Oberfläche Rezeptoren für Vitamin D aufweisen.[16]

Mütterliche Vitamin-A-Supplementierung während der Stillzeit zeigte bisher zumindest im Tierversuch einen Schutz der Nachkommen vor Atemwegsallergien und förderte die Toleranzentwicklung.[17]

Weiterhin übt Muttermilch einen positiven Effekt auf die Darmmikrobiota aus. Die aktuelle Forschung zeigt, dass insbesondere die hohe Diversität und die Menge an unverdaulichen Oligosacchariden und Bakterien die Ausbildung einer gesunden Darmflora fördern (siehe Kasten)[18]. Eine gesunde Darmmikrobiota ist die wichtigste Quelle für kurzkettige Fettsäuren und andere bakterielle Stoffwechselprodukte, die wiederum eine zentrale Rolle für die T-Zell-Entwicklung und -Reifung spielen.[19]

Oligosaccharide in der Muttermilch

Muttermilch enthält eine hohe Diversität (mehr als 1.000 unterschiedliche Typen) und eine hohe Menge (1–1,2 g/100 ml) an Oligosacchariden[20; 21; 22].

Eine weitere wichtige Rolle spielt der Wachstumsfaktor TGF-ß. Es wird vermutet, dass das in Muttermilch vorhandene TGF-ß hilft, Entzündungsprozesse im Darm zu regulieren und damit die orale Toleranzentwicklung zu fördern.[23]

Muttermilch enthält außerdem relativ hohe Mengen an immunaktivem Molekül CD14. Niedrige CD14-Mengen in Muttermilch korrelierten in Untersuchungen mit einer erhöhten Ekzementwicklung des Säuglings.[24]

Ein anderes immunaktives Molekül – IL1ß – zeigte einen ähnlichen Effekt.[25] Sekretorisches IgA (sIgA) ist das mengenmäßig wichtigste Immunglobulin in Muttermilch. Seine Aufgabe ist nicht nur, schädliche Keime außer Gefecht zu setzen, sondern auch die Toleranz gegenüber der sich entwickelnden Darmmikrobiota zu fördern.[26]

In Anbetracht der Tatsache, dass Muttermilch eine noch lange nicht vollständig erforschte Vielfalt an immunologisch wirksamen Stoffen enthält, können die bisherigen Ergebnisse nur als ein erstes „Herantasten“ an ihre toleranzfördernde und allergiepräventive Wirkung gesehen werden. Mit anderen Worten: Die positive Wirkung von Muttermilch als Ganzes geht weit über die Wirkung einzelner Bestandteile hinaus.[13]

Allergieprävention im Säuglingsalter

Allergische Erkrankungen breiten sich weiter aus – immer mehr Menschen bekommen Nahrungsmittelallergien, atopische Dermatitis, allergische Rhinitis und allergisches Asthma. Man schätzt die Prävalenz weltweit auf 30 bis 40%[27]. Auch Säuglinge sind von diesem Trend betroffen und leiden besonders unter den Symptomen von Nahrungsmittelallergien[28].

Um diesem Trend entgegenzuwirken, sucht die aktuelle Forschung nach neuen Wegen, das Risiko einer Allergieentstehung zu verringern. Dies ist besonders in den ersten 1.000 Lebenstagen wichtig, denn in dieser Zeit entwickelt sich die Darmflora und es werden grundlegende Weichen für die gesamte spätere Gesundheit gestellt[29].

Der wissenschaftliche Nachweis, dass Stillen vor Allergien schützt, wird bekanntermaßen durch Schwierigkeiten im Studiendesign eingeschränkt, da beispielsweise keine Randomisierung zwischen Stillen und Nichtstillen möglich ist.

Die bisher einzige randomisierte Stillstudie stammt aus Weißrussland, wo grundsätzlich eine niedrige Stillrate vorherrscht. Dort erhielten die teilnehmenden Eltern randomisiert entweder eine spezielle Stillförderung oder die ortsübliche Beratung (ohne spezielle Stillberatung), was zumindest kurzfristig zu einem geringeren Risiko eines Ekzems bei den Säuglingen der geförderten Gruppe führte.[30]

Unabhängig davon, wird heute allgemein akzeptiert, dass Muttermilch eine Vielzahl an Inhaltsstoffen enthält – beispielsweise bestimmte Eiweiße, ungesättigte Fettsäuren, prebiotisch wirksame Oligosaccharide und Mikroorganismen – die die Reifung des Immunsystems des Darms und die Toleranz gegenüber Eiweißen fördern und damit das Risiko einer Allergieentwicklung verringern.[13]

Faktoren, die das Allergierisiko beeinflussen

Das Risiko, im Laufe des Lebens eine Allergie zu entwickeln, ist von mehreren Faktoren abhängig. Einen großen Einfluss hat die genetische Disposition. Sie ergibt sich aus der Anzahl der direkten Verwandten des Neugeborenen, die bereits eine Allergie haben[31].

Weiterhin können äußere Faktoren, wie Kaiserschnitt, Antibiotikabehandlung und Luftverschmutzung, das Allergierisiko erhöhen (siehe Kasten). Sie beeinträchtigen die bakterielle Zusammensetzung der Darmflora und bringen sie aus dem Gleichgewicht (Dysbiose). Dieses Ungleichgewicht entsteht durch eine geringere Anzahl von positiven Bakterien, wie z.B. Bifidobakterien[32; 33].

Beispielsweise liegt bei kaiserschnittentbundenen Säuglingen häufig eine geringere Vielfalt (Diversität) und eine geringere Anzahl von Bifidobakterien vor[34]. Auch wenn bei Kaiserschnittkindern nach etwa ein bis zwei Monaten eine gewisse „Aufholentwicklung“ im Sinne einer höheren Stabilität und Diversität der Darmflora stattfindet, kann diese frühe Dysbiose langfristig die Gesundheit beeinflussen. Die Folgen können ein erhöhtes Risiko für Asthma, Ekzeme, Allergien und chronische Immunerkrankungen im späteren Leben sein[35; 36].

Faktoren, die die Darmflora beeinflussen können[32; 37; 38]

  • Ernährung (Muttermilch oder Formulanahrung)
  • Gestationsalter
  • Art der Geburt (vaginal oder Kaiserschnitt)
  • Einsatz von Antibiotika
  • Luftverschmutzung
  • Art und Zeitpunkt der Beikosteinführung

​​GOS/FOS 9:1 imitieren das Verhältnis von kurz- zu langkettigen Oligosacchariden in der Muttermilch.

Quellen

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